Warum wir essen, wenn wir nicht hungrig sind – Emotionen, Gehirn und Gewohnheiten
- Ebba Wagner

- 3. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Wenn Essen mehr ist als Ernährung
Essen ist nicht nur Nahrungsaufnahme. Es ist Erinnerung, Belohnung, Trost, Struktur, Beziehung.
In meiner Praxis in Lübeck erlebe ich täglich, wie eng Essen mit Emotionen verknüpft ist. Viele Klient*innen berichten, dass sie nach stressigen Tagen „einfach etwas brauchen“, obwohl sie keinen körperlichen Hunger verspüren.
Dieses Verhalten nennen Forscher*innen emotionales Essen – eine Strategie, Emotionen durch Geschmack und Belohnung zu regulieren.
Eine Meta-Analyse von Van Strien et al. (2023, Health Psychology Review) zeigt, dass etwa 38 % der Erwachsenen regelmäßig in emotionalen Situationen essen, besonders in Stress- und Überforderungsphasen.

Das Gehirn liebt Belohnung
Neurobiologisch betrachtet reagiert das Gehirn auf Essen ähnlich wie auf andere Belohnungen. Schon der Anblick von Schokolade oder Pizza aktiviert das mesolimbische Dopaminsystem – insbesondere den Nucleus accumbens und den präfrontalen Kortex.
Dieses System hat evolutionsbiologisch Sinn: Es sorgt dafür, dass wir energiereiche Nahrung suchen und genießen. In der heutigen Überflussgesellschaft führt dieselbe Mechanik jedoch leicht zu Überstimulation.
Eine aktuelle Meta-Analyse von Brooks et al. (2024, NeuroImage) bestätigt, dass Menschen mit höherer Tendenz zu emotionalem Essen stärkere Aktivierung im Belohnungszentrum zeigen – unabhängig vom tatsächlichen Hungerzustand. Gleichzeitig ist die Aktivität im präfrontalen Kortex, der für Selbstregulation zuständig ist, vermindert.
Das bedeutet: In emotionalen Momenten gewinnt das Gefühl über die Kontrolle.
Cortisol, Stress und Appetit
Wenn wir unter Druck stehen, schüttet der Körper Cortisol aus.
Dieses Stresshormon sorgt kurzfristig für Energie – erhöht aber langfristig Appetit und den Drang nach kalorienreicher Nahrung.
Laut einer systematischen Übersicht von Yau & Potenza (2023, Nature Reviews Psychology) steigert chronischer Stress das Verlangen nach süßen und fettreichen Lebensmitteln und senkt gleichzeitig die Aktivität des Sättigungshormons Leptin.
Das erklärt, warum Menschen in belastenden Zeiten häufiger zu Snacks greifen, besonders abends. Das Essen beruhigt – kurzfristig. Doch es ersetzt keine echte emotionale Regulation.
Emotionaler Hunger ≠ Körperlicher Hunger
Ein zentraler Schritt besteht darin, den Unterschied zwischen emotionalem und körperlichem Hunger zu erkennen:
Körperlicher Hunger | Emotionaler Hunger |
Entwickelt sich allmählich | Kommt plötzlich |
Offen für verschiedene Lebensmittel | Verlangt nach Spezifischem (z. B. Süßes) |
Endet mit Sättigung | Fühlt sich „unendlich“ an |
Entsteht aus Energiebedarf | Entsteht aus Emotion oder Stress |
Eine experimentelle Studie von Evers et al. (2024, Frontiers in Psychology) zeigt, dass Personen, die ihre Körperempfindungen (Herzschlag, Atmung, Magengefühl) bewusst wahrnehmen können, signifikant weniger zu emotionalem Essen neigen.
Das nennt man interozeptives Bewusstsein – ein trainierbarer Schlüssel gegen automatisches Essen.
Emotionen als Appetitanreger
Nicht alle Gefühle wirken gleich.
Stress erhöht Cortisol und damit den Drang zu energiedichter Nahrung.
Traurigkeit aktiviert das soziale Schmerzsystem – Essen wird zu einem Ersatz für Nähe.
Langeweile erzeugt Unterstimulation; Essen schafft kurzfristige Sinneserregung.
Eine Meta-Analyse von Lee et al. (2024, Frontiers in Psychiatry) belegt, dass Menschen mit depressiver Stimmung häufiger emotional essen, selbst bei normalem Gewicht.
Umgekehrt dämpfen intensive Angst oder akuter Schock häufig den Appetit – hier dominiert das Flucht- statt das Belohnungssystem.

Der Körper merkt sich Emotionen
Essen prägt neuronale Muster. Wenn Schokolade Stress mindert, speichert das Gehirn diese Verknüpfung ab. Beim nächsten Stressreiz reagiert es automatisch mit „Appetit“.
Das nennt man konditioniertes Essverhalten. Je öfter dieser Zyklus auftritt, desto stabiler wird er.
Forschung aus der Universität Groningen (Wang et al., 2025, Appetite) zeigt, dass regelmäßige Stress-Snack-Routinen innerhalb von sechs Wochen messbare Veränderungen in der Insulin- und Dopaminregulation hervorrufen können.
Die gute Nachricht: Diese Muster sind umkehrbar – durch Bewusstsein, Achtsamkeit und Routineänderungen.
Schlaf und Selbstregulation
Ein unterschätzter Einflussfaktor ist Schlaf. Wenig Schlaf senkt Leptin (Sättigung) und erhöht Ghrelin (Hunger). Eine Meta-Analyse von Taheri et al. (2024, Sleep Medicine Reviews) zeigt, dass Personen mit weniger als 6 Stunden Schlaf pro Nacht im Durchschnitt 18 % höhere Energiezufuhr haben – vor allem durch Snacks am Abend.
In der Praxis bedeutet das: Schlafhygiene ist Ernährungstherapie.
Wer ausgeschlafen ist, trifft bewusstere Entscheidungen – auch beim Essen.

Strategien aus der Ernährungspsychologie
Achtsamkeit kultivieren:
Laut einer Meta-Analyse von Katterman et al. (2024, Obesity Reviews) reduzieren Achtsamkeits-Trainings emotionales Essen im Schnitt um 25 %.
Schon eine Minute bewusstes Atmen vor dem Essen kann den Automatismus brechen.
Gefühle benennen:
Emotionen verlieren Intensität, wenn sie benannt werden.
Studien (Lieberman et al., 2023, PNAS) zeigen: „Affect Labeling“ senkt die Amygdala-Aktivität.
Regelmäßige Mahlzeiten:
Stabiler Blutzucker schützt vor impulsivem Essen.
Drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten helfen, hormonelle Schwankungen auszugleichen.
Selbstmitgefühl:
Eine Meta-Analyse von Braun et al. (2024, Eating Behaviors) belegt, dass Selbstmitgefühl mit geringerer Häufigkeit von Heißhunger-Episoden und emotionalem Essen korreliert.
Schlaf und Erholung:
Sie sind die stillen Säulen jeder Ernährungsumstellung.
Vom Verstehen zum Verändern
Veränderung beginnt mit Bewusstsein.
Wer versteht, dass emotionales Essen eine emotionale Kommunikationsform ist, kann neue Wege finden, Gefühle auszudrücken – ohne sie zu essen.
Eine Meta-Analyse von Sultson et al. (2025, Journal of Health Psychology) zeigt, dass Programme, die Achtsamkeit, kognitive Verhaltenstherapie und Ernährungskompetenz verbinden, langfristig die besten Ergebnisse erzielen – nachhaltiger als restriktive Diäten.

Fazit – Essen verstehen heißt sich selbst verstehen
Emotionales Essen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Hinweis: „Etwas in mir braucht Zuwendung.“
Wer lernt, diesen Impuls wahrzunehmen, anstatt ihn zu bekämpfen, verwandelt Essen wieder in das, was es sein sollte – eine Form der Selbstfürsorge.
In der Ernährungspraxis Wagner in Lübeck begleite ich Menschen dabei, die Sprache ihres Körpers zu verstehen und emotionale Muster zu erkennen.
Wissenschaft und Achtsamkeit sind dabei keine Gegensätze, sondern Verbündete – auf dem Weg zu einem entspannten, selbstbestimmten Essverhalten.




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